Road 2 Digital Austria: Die Digitalisierung unserer Vergangenheit
3. November 2022 / Redaktion
Moderiert vom Bundesrechenzentrum-Geschäftsführer und ADV-Präsidenten Roland Ledinger, drehte sich beim diesmaligen von ADV und fit4internet veranstalteten „Road 2 Digital Austria“-Talk am 5. Oktober alles um das Thema „Digitalisierung der Vergangenheit“. In der hochkarätig besetzten ExpertInnen-Runde diskutierten die Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek Dr. Johanna Rachinger, der Leiter der Digitalen Arche beim Bundeskanzleramt Österreich Manfred Gruber und der Vater der Rekonstruktionstechnologie Dr.-Ing. Bertram Nickolay über die aktuellsten technologischen Entwicklungen im Bereich der digitalen Archivierung der Zeitgeschichte.
Die Identität in Krisenzeiten bewahren
Unglaubliche 350 km Bestände im österreichischen Staatsarchiv, zu denen jedes Jahr 10 bis 15 km hinzukommen: Mit diesem anschaulichen Beispiel verdeutlichte Manfred Gruber, auf welchem Datenschatz die Republik Österreich sitzt – und wie wichtig es ist, diesen für die Nachwelt zu konservieren.
Mit dem Best-Practice-Beispiel „Digitale Arche“ leistet Gruber mit seinem Team Pionierarbeit für die Republik, die weit über die reine Digitalisierung von Daten hinausgeht. Das ambitionierte Projekt soll die Funktion eines digitalen Gedächtnisses für Österreich übernehmen, um die Identität des Staates auch in Krisenzeiten bewahren zu können. Dies veranschaulichte Gruber am Beispiel Lettlands, wo ein vollständiges digitales Abbild des Staatsapparates existiert. So kann Lettland seinen BürgerInnen nicht nur seine Staatsfunktionen im Ausland anbieten, sondern im Krisenfall sogar den Staat an sich aufrechterhalten, selbst wenn das Territorium nicht mehr existiert oder bewohnbar ist.
Um den Erhalt, die Sicherung und Souveränität der gespeicherten Kulturdaten des digitalen Gedächtnisses von Österreich zu gewährleisten, werden die eingelangten Daten für die Digitale Arche an einem hochresilienten, extrem sicheren und entfernten Standort verwahrt, wodurch auch eine notwendige Georedundanz für Wien geschaffen wurde. Mittlerweile begleitet Gruber mit seinem Team 15 Projekte, die bis 2025 2,5 Petabyte an Daten produzieren werden – die Arbeit der Digitalen Arche steht also gerade erst am Anfang.
Gegen das Vergessen
Bereits vor 40 Jahren hat Bertram Nickolay das Fraunhofer Institut als Pionier der computergestützten Verarbeitung visueller Informationen im Industriebereich positioniert. Dieses maschinelle Sehen gilt auch als eine der Grundlagen der Rekonstruktionstechnologie, die eine weitere wichtige Funktion jenseits des reinen Erhalts von Informationen erfüllt: Totalitäre Regime sind dafür bekannt, extensive Datenbanken mit zahllosen Informationen anzulegen, um so das zu regierende Volk – vermeintlich – besser kontrollieren zu können. Wenn derartige Regime kollabieren, wird meist der Versuch unternommen, diese Daten wieder zu vernichten. So hat etwa die Stasi nach Zusammenbruch der DDR ihre Aktenberge von Hand zerstört, was zu einem Fundus aus 15.000 Säcken mit Fragmenten führte.
Da die Dokumente sowohl über das Regime als auch speziell über dessen Opfer Auskunft geben können, hatte die Rekonstruktion für das deutsche Parlament hohe Priorität. Die zunächst angestrengte manuelle Wiederherstellung entpuppte sich als Sisyphosaufgabe. Eine bessere Lösung wurde mithilfe der Digitalisierung geschaffen – und zwar in Form des ePuzzlers: Dieses weltweit einzigartige, durch Algorithmen und Künstliche Intelligenz gestützte System benötigt keinen vollständigen Fragmentefundus und keine Vorlage, weswegen es für alle Arten von Dokumenten geeignet ist – seien es Akten oder Propagandaplakate.
Durch den ePuzzler haben Bertram Nickolay und sein Team Technologien etabliert, die heute weltweit genutzt werden – gleichzeitiges beidseitiges Scannen und eine Farbgenauigkeit, die mathematische Rekonstruktion erlaubt, sind hier nur zwei Stichworte. Damit wurde ein wesentliches Werkzeug und Schutzschild gegen das forcierte Vergessen geschaffen. Durch kontinuierliche Weiterentwicklung und aktuelle Fortschritte im KI-Bereich ist es dem System mittlerweile sogar möglich, Raubkunst zu identifizieren und Vorlagen für physische Rekonstruktionen von historischen Dokumenten zu liefern.
Wissen für alle – überall und jederzeit
Als Herrin über einen bedeutenden Teil von Österreichs kulturellen Schätzen befindet sich Johanna Rachinger an der Schnittstelle des Spannungsfelds zwischen dem Kulturgut Papier und den damit verbundenen Digitalisierungsmöglichkeiten. Die Österreichische Nationalbibliothek ist nicht nur die größte wissenschaftliche Bibliothek der Republik, sondern allgemein eine der bedeutendsten Bibliotheken weltweit, die über ein riesiges kulturelles Erbe und einen extensiven Wissensschatz verfügt.
Einer der wichtigsten Aspekte für die Digitalisierung des Bestandes ist gleichzeitig auch eine der größten Sorgen: Nämlich dass Inhalte, die nicht im Netz abgebildet sind bzw. werden, nicht mehr wahrgenommen werden. Sollten nur noch digitale Publikationen berücksichtigt werden, wäre dies für die zukünftige Forschungsarbeit fatal, da so fundamentale Lücken entstehen können. Ein weiteres wesentliches Argument für ein digitales Abbild des Bestands ist der Katastrophenfall. 1992 wäre die Nationalbibliothek fast Opfer eines solchen Unglücks geworden, denn im Zuge des Hofburg-Brands bestand die Gefahr, dass das Feuer auf den Prunksaal übergreift. Dieser enthält über 220.000 zwischen 1500 und 1800 erschienene Bücher, viele davon Unikate, die für immer verloren gewesen wären. Durch die Kreation digitaler Zwillinge können die Inhalte der Publikationen vor ihrer Vernichtung gerettet und ihre Informationen für nachfolgende Generationen bewahrt werden. Die fortschreitende Digitalisierung von Publikationen wirkt auch als Katalysator für die Demokratisierung des Wissens. Laut Rachinger soll es hierdurch möglich werden, dass alle Menschen mit Internetanschluss weltweit und jederzeit auf das in der Nationalbibliothek gespeicherte Wissen zugreifen können.
Für die Zukunft sieht Johanna Rachinger die Ausrichtung der Nationalbibliothek als Teaching Library als wegweisend an: Wir leben in einer Zeit, in der mehr Informationen als je zuvor verfügbar sind, die exzellent ausgebildeten MitarbeiterInnen der Nationalbibliothek sollen hierbei als FührerInnen durch diesen Dschungel fungieren. Eine Institution, die sich mit den Themen Wissen und Information beschäftigt, muss wissen, wie Wissen in Zukunft für die Welt von morgen aufbereitet sein soll und wie Informationen jederzeit für alle BürgerInnen zugänglich erhalten werden sollen.
Mehr Informationen zu den Projekten finden Sie hier:
Digitale Arche Österreich: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/digitale-arche
ePuzzler: https://www.ipk.fraunhofer.de/de/zusammenarbeit/referenzen/stasi-puzzle.html
Österreichische Nationalbibliothek: https://www.onb.ac.at/digitaler-lesesaal